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  • u.nic.orn

Hallo Welt, lange nicht gesehen


Ich antizipiere rechts und mache mich schon daran, nach links zu fahren. Doch wie aus dem Nichts scheint sich dieses Geschöpf umzuentscheiden. Das rechte Bein macht einen Schlenker, die rechte Schulter auch und zack steuern wir wieder unausweichlich wie die Titanic und der Eisberg aufeinander zu. In meinem Kopf beginnen sich die unmöglichsten Szenarien zu bilden und ich höre die Stimmen meiner Vorfahren. Sie flüstern mir Sätze zu wie: «wer bremst verliert», «der ist gar nicht sooo gross» und «heute ist ein guter Tag, um Blut zu sehen». Währenddessen schreit mein Überlebensinstinkt wie die Reiter Rohans mit voller Inbrunst: «Tooooood!»

Geistesgegenwärtig schwenke ich auf die andere Seite, um unsere beiden Schicksale vor dem sicheren Ende zu bewahren. Mein Gegenüber scheint aber gerade aus der Warteliste von Dignitas oder Exit gefallen zu sein und eine unstillbare Sehnsucht nach dem Ende in sich zu tragen. Wir rasen wieder aufeinander zu. Nach einigen letzten verzweifelten Schwenkern nach links, rechts, rechts antäuschen und links vorbeiziehen – Kansas City Shuffle Baby – scheint es um uns geschehen zu sein. Kurz bevor wir aufeinanderprallen und lauter als der Urknall die Luft erzittern lassen, kommt mein Gegenüber abrupt zum Stehen.

Er nimmt seinen Stöpsel aus dem Ohr und sagt: «Oh, sorry.» «Verdammte Scheisse nochmals, bist du eigentlich dumm, oder was?!», hätte ich entgegnen sollen. Allerdings bin ich knapp mit dem Leben davongekommen und schaffe es gerade noch ein «schon ok» aus meiner Lunge zu pressen. Ich zieh links vorbei und unsere Wege trennen sich. Doch dieses Nahtoderlebnis wird uns für immer verbinden.

Später in der Nacht erwache ich schweissgebadet und frage mich: «Wann wurde es cool, die Welt in jeder möglichen Minute auszublenden, nicht mehr auf Andere zu achten und in seinem eigenen Mikrokosmos zu leben, der aus Musik von Künstlern mit Gesichtstattoos und den populärsten Hintern von Fitnessmodels besteht?» Ich weiss es nicht, aber es ploppt gerade eine Benachrichtigung von YouTube auf meinem Smartphone-Bildschirm auf. Twerk-Battle mit Fitnessmodels vor der musikalischen Kulisse von Post Malone. «Geil», denke ich und lass mich von Synthesizerstimme und Hintern sanft in den Schlaf wiegeln.

Ich mag ziemlich cool, zynisch und ein wenig kantig wirken, aber im Grunde bin ich ein Produkt meiner Umstände. Wärt ihr gleich aufgewachsen wie ich, würdet gleich aussehen wie ich, hättet die gleichen Probleme wie ich und dieselben Freunde, dann würdet ihr jetzt hier eine Geschichte erzählen. Ihr und ich, wir sind gleich.

Wie dem auch sei. Weil ich bin, wie ich eben bin, kann ich keine Kopfhörerstöpsel in meine Ohren stecken, wenn ich keinen Tisch vor mir habe, auf dem ich mich abstützen kann. Das bedeutet wiederum, dass ich im Zug und auf dem Weg zum Büro die Welt wahrnehmen darf. Naja, oder vielleicht auch muss. Weil ich nicht nur einen Gendefekt, sondern auch ein Egoproblem mit mir rumtrage, transformiere ich die Not in eine Tugend und versuche mich damit, von den Anderen abzusetzen. Mein innerer Hipster ist gigantisch und beeinflusst mich mehr, als ich zugeben möchte. Wenn das doch nur reichen würde, um einen anständigen Bartwuchs zu provozieren. Aber vielleicht ist es jetzt auch nicht mehr cool, so einen Bart zu tragen. Hat inzwischen jeder, kann also gar nicht mehr so verdammt individuell sein. Mein innerer Hipster wird schon wissen, was er tut.

So findet er es auch ultra edgy, dass ich keine Kopfhörer trage. Würde ich immer welche tragen, wäre ich zum Beispiel niemals mit diesem Kiffer – nennen wir ihn Smoky – ins Gespräch gekommen. Ich hätte nie erfahren, dass mittags um 13:00 Uhr eine Bong zu rauchen anscheinend keine so gute Idee ist. Aber was solls, wir haben uns ein wenig über Grand Theft Auto ausgetauscht. Das normale Zuggespräch eben. Und ich muss sagen, ich stimme mit ihm überein: Es wäre wirklich voll geil, wenn man mit einem Wingsuit an einer virtuellen Klippe entlang brettern könnte. Vielleicht sollten Spieleentwickler mehr Bongs rauchen. Ja, das klingt nach einer vernünftigen Idee.

Oder der Kerl, der gerne Jungle-Musik hört. Auf dem Smartphone. Im Zug. Der voll ist. Auf der höchsten Lautstärke. Gegenüber von mir. Wäre mir das passiert, wenn ich Kopfhörer getragen und krampfhaft versucht hätte, die Welt um mich herum zu ignorieren? Ich glaube nicht. Wären mir einige peinliche und bange Moment erspart geblieben? Ich glaube schon.

Wer hat sich schon nicht dabei ertappt, ein altes Gesicht voller Narben und Falten anzusehen und zu denken: «Ja, diese Person hat gelebt.» Insgeheim wünsche ich mir immer, eines Tages selbst so ein Gesicht wie eine Krone zu tragen. Ich will all die Lacher haben, die ich kriegen kann, die sich dann für immer in meinem Gesicht festankern und an die ich später zurückdenke.

Ich will den Schmerz jeder Narbe fühlen und mich an die grossartigen Geschichten, die sich hinter ihnen verbergen, erinnern. Zum Beispiel wie damals als ich mir dachte, dass es eine gute Idee ist, sich mit einer Bande wilder Longboarder mithilfe von Jägermeister zu verbrüdern und später wie ein Pinguin ein kleines Stück Hang heruntergerutscht bin. Oder als ich als kleiner Junge voller Freude meinen Eltern ein Spielzeug zeigen wollte und dabei eine kniehohe Stufe übersah. So einen intensiven Eskimokuss erlebte ich nie wieder und ich werde dich für immer im Herzen tragen Fussboden des Globus in Locarno.

Und ja, ich weiss, dass man nicht mehr Eskimo sagt, aber habt ihr schonmal «Synonyme Eskimokuss» gegoogelt? Ich schon und ich glaube, Google denkt jetzt, ich bin ein Rassist. Oder als ich mich auf einer Eckbank hinter meinem Bruder vorbeidrängeln wollte und diese Kuckucksuhr dachte, dass ich eine Lektion verdiene und mir ihr Gewicht auf den Zeigefinger fallen liess. Ich werde das Esszimmer in der Küche meiner Grossmutter nie wieder vergessen. Noch heute zucke ich zusammen, wenn ich einen Kuckuck höre.

Ich habe all das erlebt und zwar ohne Kopfhörer. Ich bin noch nicht mal besonders unternehmungslustig und spreche nicht die ganze Zeit mit wildfremden Menschen. Aber verdammt, schaut von eurem Smartphone hoch, zieht die Stöpsel aus dem Ohr und hört zu. Seht euch um, achtet auf die anderen Leute um euch und saugt die Eindrücke dieses Lebens wie ein Schwamm auf. So wie früher: Die Welt war gross, wir noch klein und an jeder Ecke wartete eine Unendlichkeit an neuen Möglichkeiten.

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