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  • u.nic.orn

Die Rede des Jahrhunderts


Als Rede gedacht, wegen eines Virus in einen Text umfunktioniert. Sie sollte mein Magnum Opus der Geburtstagsreden werden. Als Alternative war lose geplant, ein Video der Rede zu drehen und sie zu veröffentlichen. Es mag dramatisch erscheinen, doch ich frage mich hier morgens um halb drei, wohin uns die Reise führt. Keine Ahnung, aber ich weiss, dass ich diesen Text mit euch teile.

Wir schreiben den 09. September 2019 und ich lebe. Es ist dreckig, es ist kalt und es stinkt überall nach Alkohol. Ich schiebe Emu und Felix mein leuchtendes Smartphone vor die Nase und bin schon echt betrunken. Ich zeige ihnen stolz wie Oskar ein paar Zeilen, die überraschend korrekt geschrieben sind. Ich staune bis heute. Wahrscheinlich vergassen sie diesen Moment direkt am nächsten Tag wieder. Vielleicht dachten sie in einem Erinnerungsfetzen zwischen Magners, Whiskey, Bambusstrohhalmen und bunten Lichtern eine Woche später wieder daran. Aber ich würde alle meine Tischbomben wetten, dass sie nicht gedacht hätten, dass ich meine Rede damit beginne. Mit all dieser übertriebenen Vorankündigung kann der Absatz nur zum Scheitern verurteilt sein, also bringen wir dieses Trauerspiel hinter uns. Einen Fehler fand ich tatsächlich in diesem Abschnitt. Mal sehen, ob ihr ihn auch findet.

"Dich kenn ich doch von der Genurtstagsparty", sagt sie und mein Herz geht auf. Zwei mehr oder weniger wildfremde Menschen begegnen sich zum zweiten Mal und erkennen sich. Vor zehn Jahren dachte ich nicht ansatzweise an so etwas. Doch es ist passiert, irgendwie gelang mir das Unmögliche und ich verband in dieser garstigen Welt zwei Menschen miteinander. Sie sahen sich nie wieder. Was für eine Erfolgsgeschichte.

Seit zehn Jahren feiere ich jedes gelebte Jahr völlig übertrieben mit einem Fest, das seinesgleichen sucht. Nirgends wird ein einziges Ego so gestreichelt wie an diesem Fest. Nirgends antwortet jemand auf die Frage «Was isch üses Budget?» mit einem trockenen, aber bestimmten «Budget? Scheisse Emu, Budget isch für Ahfänger! Und jetzt wirf dä vierti Sixpack Cola, wo mir nie im Lebe bruche werded, i das huere Wägeli ine.» Nirgends findet eine Party vor der Party und eine Party nach der Party statt. Nirgends zeigt der Gastgeber erst nach dem fünfzigsten Glas Weisswein sein wahres asoziales Gesicht. Nirgends lässt der Redner sein Mikrofon von einem armen Menschen halten, während er sich genüsslich dreissig Minuten lang selbst feiert. Nirgends werden so viele Wiederholungen in einen einzigen verdammten Abschnitt gepackt, sodass er beinahe aus allen Nähten platzt. Nirgends kauft jemand so vehement Tischbomben ein, obwohl sie niemand mag und behauptet steif und fest, dass eine Party erst eine Party ist, wenn Tischbomben gezündet werden. Nirgends wird der Tischbomben-Nazi danach mit seinen eigenen Tischbomben-Inhalten dekoriert als wäre er eine Bar, die während der Fassnacht in einen Strip Club umfunktioniert wird.

Nun denn, dass soll nicht so eine Rede wie all die anderen werden. Es geht natürlich nach wie vor primär um mich. Aber genau so, wie ich Menschen beeinflusste, gab es Menschen, die mich beeinflussten. Leute, die mir zur richtigen Zeit die richtigen Vorbilder waren oder einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und mich auf irgendeine Art und Weise veränderten und zu dem formten, der ich heute bin. Weil ich nicht Quentin Tarantino heisse, keinen Fussfetisch habe und nicht so einen zweifelhaften unheimlichen Ausdruck in meinen Augen trage, beginnt diese Geschichte, wie die meisten: am Anfang.

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist diese an meinen Onkel Urs. Ich dachte bereits als kleiner Knirps, dass er eine unglaubliche Lässigkeit ausstrahlte und ihn so eine natürliche Nonchalance umgab. Ich wusste genau: Das will ich auch und beschloss, fortan alles dafür zu tun, der coolste Bastard zu werden, der ich nur irgendwie werden konnte. Geschafft habe ich es natürlich nicht. Aber immerhin, ich war nahe dran und bin zufrieden damit, dass ich überhaupt in die Nähe der Sonne kam.

Weil ich verdammt jung war und meine Erinnerung bereits jetzt zuweilen nicht die beste ist, sei es mir verziehen, dass ich mich an die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse nicht mehr so genau erinnere. Ich denke meine Eltern werden mich oder euch später sicher gerne darüber belehren.

Meine nächste frühe Erinnerung handelt vom Baugeschäft meines Vaters, das er wiederum von seinem Vater übernahm. Ich glaube, dass meine Grossmutter damals ziemlich stolz war. Ich sehe meinen Vater, meinen Onkel Urs, meine Tante Maja auf der Baustelle und meine Mutter im Büro und bin beeindruckt, wie fleissig sie alle sind.

Wir springen in wärmere Gefilde, mit einer kurzen Eskapade in die Kälte. Ich wache auf, es ist schweinekalt und saudunkel im Zimmer von mir und meinem Bruder. Ich glaube, es war ein kleines Eckzimmer. Wir teilten es uns. Ein Bett auf der linken Seite und eines auf der rechten. Wir fürchten uns, denn wir glauben, dass wir verschliefen und sich unsere Familie ohne uns auf den Weg zum Flughafen begab, um nach Florida zu fliegen. Die Panik war natürlich unbegründet. Sind wir ehrlich, wer würde mich zurücklassen?

Ich esse die besten Trauben, die ich jemals ass, an einer Raststätte in Florida. Hinter uns ist es dunkel, ich fürchte mich vor der Dunkelheit. Ich freundete mich mit der Nacht erst später an. Fruitloops quetschen sich auch irgendwo in meine Diashow der Erinnerungen. Habt ihr gewusst, dass alle gleich schmecken? Gern geschehen, ich versaute euch Fruitloops. Erzählt DIESE Geschichte mal euren Grosskindern, ihr Säcke.

Meine Kindergärtnerin – eine schöne Frau – so sagte man mir, hatte damals einen Freund und der starb irgendwie sehr tragisch. Ich weiss nicht mehr genau wie, aber ich weiss, dass ich mich bis heute daran erinnern kann.

Aber da war noch etwas, da war noch jemand. Ein anderes Kind. Er sah irgendwie anders aus als die anderen Kinder. Ich sehe Ledermokassins, schulterlange schwarze Haare und dunklere Haut. Meinem Kindergärtnerverstand war sofort klar: Das muss ein Indianer sein, geil! Es war kein Indianer. Er war Tibeter und kochte heute unsere Momos. Und er hatte immer die geilsten Legos. Penner!

Nächster Halt Schulpsychologischer Dienst. Frau Sturm. Sie machte mit ihrer Frisur ihrem Namen alle Ehre. Wieso war ich da? Die Antwort wird vermutlich niemanden überraschen. Alle dachten, ich bin zu blöd. Ich glaube, ich auch. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht war das meine Trotzreaktion. Manche mögen bestätigen, dass ich nicht nur ein hübscher Bastard, sondern auch ein verdammt sturer Idiot sein kann. Glaubt diesen Ammenmärchen nicht. Allerdings stellte sich heraus, dass ich nicht zu blöd, sondern zu schlau war. Ich glaube bis heute an ein abgekartetes Spiel.

Die Würfel fielen und wir oder meine Eltern entschieden sich, mich eine Klasse überspringen zu lassen. Geil, mögt ihr euch denken, ein Jahr weniger Schule. Naja, fast. Das Jahr packten wir einfach irgendwie in die anderen sieben rein. Nächster Erinnerungsfetzen, nächster Mentor: Conrad Schläpfer, der Vater meines Hausarztes. Ja, Freunde, das Toggenburg ist ein einziges grosses Dorf. Er versuchte, mir in fünf Wochen Sommerferien alles beizubringen, was ich in diesem Jahr verpasste. Es funktionierte zu grossen Teil. Meinen Lehrer hielt das nicht davon ab, mir mitzuteilen, was ich denn alles wissen sollte, dafür, dass ich ein Jahr ausliess. Die Logik mag wenig sinnvoll erscheinen. Das liegt daran, dass sie sinnlos ist. Aber hey, wisst ihr was? Ich bin dennoch froh, dass er mein Lehrer war. Es war hart, aber es spornte mich jeden Tag dazu an, ihm das verdammte Gegenteil zu beweisen und wenn es das Letzte sein wird, das ich tue.

Er sitzt vor mir am ältesten Tisch, den ihr euch vorstellen könnt. Der Junge mit den zu kurzen blauen Hosen und den Haaren im Gesicht. Allein, zuvorderst. Aber es scheint im scheissegal zu sein. Was für ein Outlaw. Und er ist intelligent, sehr sogar. Zumindest wusste er all die Antworten auf die Fragen der Lehrer. Im Englischunterricht sassen wir irgendwann nebeneinander. Der Beginn einer Freundschaft, die bis heute hält, und später ihren bisherigen Höhepunkt darin fand, als wir zusammen im selben Haus wohnten.

Irgendwann landete ich auch noch neben dem Typen, den ich nie einschätzen konnte. Ich flüsterte ihm irgendeine Frage zu, die er halb schreiend mit: «HÄ, WA MEINSCH?!» beantwortete. Ahoi Aufmerksamkeit des Lehrers und der ganzen Klasse. Danke Ivan, du bist bis heute mein Lieblingassi, also direkt nach mir.

Sagt über Australier, was ihr wollt, aber ich kenne sicher einen von ihnen, der es Wert ist, die Welt zu umkreisen. Von allen möglichen Orten im Rest der Welt verschlug es Michael Brady ins Toggenburg. In dieselbe Klasse wie mich. Sein breites Grinsen und seine offene Art verzauberten mit links die ganze Schule. Was für ein Teufelskerl. Wir hatten mit Lobi ein Projekt zusammen, bei dem wir versuchten, ohne Anleitung oder jegliches Vorwissen in einem Luftschutzbunker unter der Schule Fotos zu entwickeln. Ja, wir waren krass. Rotlicht befanden wir als Werkzeug der Schwachen und entwickelten die Fotos im Dunkeln. Nochmals: Ja, wir waren krass.

Du bist nicht so schnell wie alle anderen, also arbeite genauer als alle anderen. Worte, die mir mein erster Lehrmeister mit auf den Weg gab und an die ich mich bis heute halte. Er zeigte mir auch, dass in Buchhaltung Logik steckt und sie unterhaltsam sein kann. Die letzten Jahre brachte mich dieses Wissen an den Ort, an dem ich heute bin und ich würde nichts anders machen.

An meiner Abschlussfeier sehe ich mich um und bemerke, dass ich der einzige bin, der kein Kleid oder Hemd trägt. «Lustig», denke ich mir. Ich glaube mich zu erinnern, dass mein Banknachbar, der jetzt in seinem scheiss Hemd neben mir steht, und ich vereinbarten, dass wir im T-Shirt aufkreuzen. Rückblickend begann damals meine ewig währende Passion für Hemden. Selten sieht man mich seit jeher ohne Hemd. Aus einem bitteren Verrat, den ich bis heute nicht ganz verkraftete, ist eine neue Liebe entstanden – oder so.

Erster Arbeitgeber nach der Ausbildung, neues Glück. Neben der Küche, die sich am Ende eines langen und zu wenig geheizten Flurs befindet, steht ein klobiger Esstisch. Um diesen herum tummeln wir uns jeden Tag wie fünfzehn Hunde, die alle versuchen aus dem gleichen Napf zu fressen. Eine halbe Stunde nach Essensbeginn stürmt Tizi zur Tür hinein und begrüsst uns alle überschwänglich. Irgendwie kommen wir ins Gespräch und stossen auf das Thema Alter. Sie ist damals 30. Für mich eine Zahl, die noch weit in der Zukunft liegt. Ich frage sie, wie das so ist und eine ihrer Antworten ist immer noch tief in mir verankert. «Ich finde es geil, dreissig zu sein», sagt sie mir. «Du lässt dir nicht mehr alles gefallen und du weisst langsam, was du willst.» Ich fand das damals eine starke Aussage und ich sehe das heute noch so. Alle fürchten sich vor dem älter werden, aber nicht sie. Und seit damals tue ich das auch nicht mehr. Ich freue mich immer, wenn ich Geburtstag habe. Nicht wegen dem Tag selbst aber wegen der Tatsache, dass ich wieder ein Jahr überlebte.

Wenn ihr mich fragt, dann gibt es genau zwei Arten von Menschen. Es gibt mich und es gibt nicht mich. Nein, natürlich nicht. Es gibt die guten und es gibt Arschlöcher. Bisher blieb ich von den letzteren weitestgehend verschont. Doch eines Tages gelangte auch ich an ein ausgesprochen perfides Exemplar der Sorte Bastard. Aber wie Yin und Yang es so an sich haben, gibt es in der Regel einen Gegenpart. Als Roli Schwager bemerkte, dass ich von meinem damaligen Boss ausgenutzt wurde, fackelte er nicht lange. Er holte mich zu sich und brachte mir nebst ausgesprochen praktischen Computerkenntnissen bei, kein naiver Idiot mehr zu sein. Und das, meine Freunde, das war eine Herkulesaufgabe. Doch er gab nicht auf und ich fand meinen gesunden Menschenhass.

Ein riesen Kapitel beginnt, das bis heute überdauert. Mit einem Lächeln, das sich vom linken bis zum rechten Ohr erstreckt, begrüsst mich Nadia in der sonnendurchfluteten Eingangshalle am Reinluftweg. Ich bin etwas nervös, mein erstes richtiges Vorstellungsgespräch. Wir begeben uns in einen Warenlift. Wenn es eine Untergrundgesellschaft der Rollstuhlfahrer geben würde, wir würden Warenliftquartett spielen. Ich sah Dinge. Aber ich schweife ab. Ich fahre in das Besprechungszimmer ein und sehe Jerry und Stefan vor mir sitzen. Keiner von uns wusste damals, wohin die Reise gehen würde. Von den beiden bekam ich eine Chance, für die ich immer dankbar bin.

Dann begann sozusagen meine zweite Ausbildungszeit. Mein Ausbildner? Mario «der Bienenzüchter» Berweger. Mein Diamant glänzte damals schon ein wenig. Er schliff meine Kanten aber etwas mehr ab. E-Mails schrieb ich manchmal dreimal neu, bis sie den richtigen Ton aufwiesen. Das mag pedantisch klingen, half mir später aber weiter. Eine gewisse Pingeligkeit übernahm ich von damals und wurde ich bis heute nicht los. Manche meiner Arbeitskollegen mögen das bestätigen. Glaubt ihnen nichts.

Wir bleiben bei bexio, denn immerhin kosten die mich am meisten, wenn sie schon fast die halbe Halle füllen. Irgendwann stiess Tanja zu unserem Team im Elfenbeinturm hoch über dem Pöbel Rapperswils hinzu. Ich lernte viel von ihr. Dank ihr kann ich zuweilen meinen verkappten Perfektionismus in gewissem Masse unterdrücken, damit er mir nicht mehr im Weg steht und ich ihn jetzt zu meinem Vorteil nutzen kann. Ich lernte von ihr, wie ich am besten mit Menschen umgehen kann. Ich begann wieder den Raum zu lesen und fand Motivation, mich weiter zu verbessern. Dank ihr lernte ich Deniz – auch bekannt als Fledermausflügeli – und die wilde Rapperswiler Meute kennen.

Sogar Felix schlich sich in mein Lebe. Beide in derselben Metropole namens Krummenau mit 200 Menschen und 1'000 Rindern aufgewachsen, sahen wir uns vor bexio nicht ein einziges Mal und schüttelten zum ersten Mal in unserem Leben im bexio-Turm gegenseitig unsere Hände. Was für ein Wunder.

Selbstverständlich darf ein weiterer bexiot in dieser Liste nicht fehlen. Ohne ihn wäre sie einfach deutlich weniger elegant. Die Rede ist von Matt. Der whiskytrinkende junge Mann mit dem ausgesprochenen Flair für die schönen Dinge im Leben und einer leicht obsessiven unerschütterlichen Liebe zu Kaffeemaschinen und deren Endprodukt: die dunkle weltweit bekannte Brühe namens Kaffee. Unsere fünfstündigen, halbjährlichen Treffen im Gourmettempel Jakob in Rapperswil beeinflussten mich auf viele Arten. Sie brachten mir andere Sichtweisen bei und halfen mir, Dinge jeglicher Art aus allen Blickwinkeln zu betrachten, ohne dabei meine persönliche Haltung zu fest einfliessen zu lassen. Ich würde gerne sagen, dass ich ihn nur in die Liste aufnahm, weil er bald mein Chef sein wird aber ich lernte, dass lügen scheisse ist. Und wenn ich nun wie ein Heuchler hier sitze, dann ist mir das egal, denn ich lernte ebenfalls, dass mir Meinungen egal sind.

Weg vom Büro. Meine Grosis waren bemerkenswerte Frauen und das, so lange ich mich an sie erinnern kann. Zu einer Zeit, als bemerkenswerte Frauen eher Miss- als Beachtung erhielten. Nein, ich spreche nicht von gestern. Von damals, ihr wisst schon: Weltkrieg; kleiner Österreicher mit einem Komplex wegen seiner schwarzen Haare, braunen Augen und gemäss YouTube anderer Dinge (er hatte nur ein Ei). Damals, als WhatsApp der Vorplatz der Kirche nach der Messe war. Ok, gut, damals waren sie vielleicht noch nicht so alt, aber ich wollte ein bisschen Drama einbringen.

Von der Mutter meiner Mutter lernte ich, dass die Freude des Schenkens die Freude des Beschentkwerdens deutlich übersteigt. Als Kind sah ich vor allem die letztere als die mit Abstand beste Freude an. Inzwischen erkenne ich, was sie mir damals mitgab und ich bin dankbar dafür. Ihre Hände bleiben mir für immer als eines in Erinnerung: helfend.

Von der Mutter meines Vaters lernte ich sogar noch mehr. Das lag vor allem daran, dass wir rein geografisch näher waren und dadurch mehr Zeit miteinander verbrachten. Ich weiss nicht, ob ihr auch so jemanden kennt, aber wenn sie in einem Raum war, gab sie diesem Wärme. Es war, als ob die Luft um sie herum vibrierte. Sie zeigte mir Freude. Freude für den Kaffee am Morgen; Freude für den Erfolg von anderen; Freude für Menschen, die für dich da sind – egal wo, egal wann –; Freude für guten Schlaf; Freude für einen schönen Tag und Freude für Essen, das mit Liebe gemacht ist. Und das Allerwichtigste: Sie brachte mir bei, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Das sagte sie mir nicht mit Worten, sondern mit der Art, wie Sie war.

So sicher wie das Amen in der Kirche folgt irgendwann die Frage «Hast du eigentlich Geschwister?» Meist antworte ich mit einer subtilen Korrektur – hatte – und nehme damit in Kauf, Stimmungen innert Sekundenbruchteilen in den Keller zu befördern. Es ist schwer zu beschreiben, was ich alles von meinem Bruder mitnahm. Ich teile mit euch das Wichtigste und vielleicht nicht Offensichtlichste: Mut, ich lernte Mut. Und eine gesunde Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft und möglicherweise irgendwann auftretenden Problemen. Was wir haben, das gibt es sonst nirgends und ich hatte lange einen riesigen Vorteil. Ich wusste, was kommt. Erst lange Zeit später, nachdem er starb, fiel mir diese Eigenschaft auf. Er wusste nie, was die Zukunft bringt und wie lange er leben wird. Das weiss niemand, ist man versucht anzumerken. Doch die meisten von uns spüren das Damoklesschwert nicht Tag für Tag über sich schweben. Das kann lähmen. Aber nicht ihn, niemals. Sein Leben war kurz, doch er lebte es mehr als es alle anderen taten.

Hätte ich drei Wünsche frei,

es wären drei Tage mit diesen drei.

Hin zu weniger morbiden Themen. Es gibt diesen Ausdruck: ein ausgekochtes Schlitzohr. Müsste ich einen Menschen diesem Ausdruck zuordnen, dann wäre es mein Grossvater. Auch bekannt als der Vater meiner Mutter. Von ihm lernte ich, dass es manchmal besser ist, um Verzeihung zu bitten als um Erlaubnis. Und am allerbesten ist es, sich gar nicht erst erwischen zu lassen. Er zeigte mir, dass man mit dem nötigen Biss und genug Willen alles erreichen kann. Und wenn du was erreicht hast, dann behalt es nicht nur für dich. Teile es. Gib was zurück.

Und zum Schluss sparte ich mir das Beste auf. Als ich begann, diesen Abschnitt zu schreiben, fiel mir auf, dass das auch bei weitem der schwerste ist. Den aufmerksamen Zuhörern unter euch ist nicht entgangen, dass zwei Menschen bisher nur ganz nebenbei erwähnt wurden. Die Rede ist von den beiden, die das ganze Desaster hier zu verantworten haben. Wären sie nicht gewesen, wären wir heute nicht hier. Also ihr vielleicht schon aber ich sicher nicht.

Ich höre oft, dass ich unglaublich gut erzogen bin und ich frag mich immer wieder wieso. Denn oft denke ich, dass das so gar nicht stimmt. Für mich ist es normal, so zu sein. Das verdanke ich meinen Eltern. Normalerweise feiere ich meinen Geburtstag immer komplett ohne Familie. Eigentlich plante ich auch, dass dieses Jahr wieder gleich zu handhaben. Aber dann begann ich mir zu überlegen, was für ein Thema meine Rede haben soll und ich hatte lange keine Ahnung. Eines Abends sprang mir die Erleuchtung ins Gesicht. Ich schreibe über die Menschen, die mich am meisten. Während ich schrieb, bemerkte ich, dass es in eine Richtung ging, die mehr an eine Dankesrede erinnert. Und was für einen Sinn ergibt es, wenn die, die mich am meisten beeinflussten und denen ich danken möchte nicht hier sind, um sie zu hören. Da fiel meine Entscheidung, richtig zu übertreiben und so viele Leute einzuladen, wie ich es noch nie tat.

Meine Eltern brachten mir bei, dass ich alle so behandeln soll, wie ich selbst behandelt werden möchten. Sie lehrten mich, einfach mal anzufangen und nicht immer alles zu planen. Dass man den Schwächeren hilft. Dass man immer Grösse zeigt. Dass es manchmal besser ist, eine Entscheidung zu treffen, die andere als dumm betrachten, weil es besser ist, zu fallen und sich dafür weiterhin im Spiegel anschauen zu können. Dass Gutes irgendwann zurückkommt. Und jeder Penner, der dir etwas Böses tut, irgendwann die Quittung bekommt.

Sie zeigten mir, wie ich immer nach vorne schaue. Vergangenes bleibt vergangen, aber was als nächstes kommt, dass weisst du nicht, also schau auf den Boden vor dir und bleib wachsam. Fehler machen wir alle, also lass sie geschehen, aber lern was daraus. Sei immer ehrlich. Such dir Freunde, denen du vertraust und dann sei für sie da. Immer.

Sie unterstützen mich immer bedingungslos bei all meinen Vorhaben. Manchmal gaben sie mir auch den nötigen Arschtritt, um etwas anzugehen. Oder sie lagen mir so lange in den Ohren, bis ich es einfach nicht mehr hören konnte. Sie motivierten mich dann, wenn ich keine Motivation mehr hatte. Sie urteilten nicht über mich in meinen dunkelsten Momenten, sie waren einfach da für mich. Jahrelang hört man von allen Seiten, dass man seine Eltern irgendwann nicht mehr als nervige Autoritäten wahrnimmt und dankbar für all die Opfer und Erziehungsmassnahmen ist. Bei manchen geschieht das früher und andere brauchen 28 verdammt lange Jahre dafür.

Danke Mami, danke Papi

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